Enklave der behinderten, revolutionären AnarchistInnen
d.a.r.e. ist ein etwas Älteres Theaterstueck aus dem Jahre 1997, das neu auf Tour geht.
Die Handlung spielt in einer nicht all zu fernen Zukunft. Vier behinderte Anarchisten treffen sich im virtuellen Anarchist Chatroom und diskutieren ueber das neue Gesetz, welches besagt, dass sich ab sofort jede(r) einen Gentest unterziehen muss, auf dessen Basis dann die Krankenkassenbeitraege festgesetzt werden. Die vier Anarchisten stimmen einander zu, dass sie den Gentest verweigern werden, und in den Untergrund gehen werden, um gegen die Gentechnik mit deren Anspruch, “perfekte Babys” garantieren zu wollen, zu protestieren. Anhand eines Computerprogrammes gruenden sie d.a.r.e.- die disabled anarchist revolutionary enclave, und erfuellen Schritt fuer Schritt die Vorgaben, welche ein Unbekannter namens Jason festsetzt, um zu einer bewaffneten revolutionären Zelle der Behindertenbewegung zu werden.
Ihre erste Mission ist die Befreiung von Medea, einer Frau mit Down-Syndrom, welche mit ihren ebenfalls lernbehinderten Mann eine Familie gruenden moechte, und durch das neue Gengesetz eine Zwangssterilisation zu erwarten hat da, genetisch gesehen, so ziemlich alles dabei rauskommen koennte. Die Mission ist ein Erfolg, Medea und ihr ebenfalls behinderter Liebhaber sind vereint- und d.a.re. wird durch den legalem Arm der Behindertenbewegung, einem zwergenhaften Soziologieprofessor, die Erklärung an die Medien abgenommen, d.a.r.e. Dank zugesprochen und im weiteren Vorgehen bestaetigt. Doch hinter den Kulissen faengt es an zu brodeln- denn die vier Anarchisten sind sehr unterschiedlich in ihren Vorlieben und ihrer Lebensgestaltung. Dann geht etwas schief- der Partner eines d.a.r.e. Mitgliedes hat sich einem Gentest unterzogen um seine Zukunft zu sichern und das gemeinsame Heim abbezahlen zu koennen, die Partnerschaft zerbricht an dem Konflikt, und er jagt sich als Selbtmordattentaeter im Gebaeude der British Medical Association in die Luft.
d.a.r.e. wird fuer den Anschlag verantwortlich gemacht. In der Enclave wandelt sich nun die brodelnde Atmosphäre des Unbehagens in einen erupierenden Vulkan, bei dem sich die Protagonisten nichts schenken- waehrend der erste vom Ausstieg faselt, und doch weiss, dass es viel zu spaet dafuer ist, denkt der zweite an Selbstmord und der dritte moechte am liebsten alle abknallen…
Dabei geht der Konflikt ueber das urspruengliche Thema- Gewalt oder Nichtgewalt hinaus, und schwelende, unterliegende Differenzen treten zu Tage: als nicht-offensichtlich Behinderter fuehlt sich Hercules (John Hollywood), nebenbei in dem Stueck ein Schottischer Nationalist, von den anderen ausgeschlossen und nicht akzeptiert, Argos (Nabil Shaban), der einzige Rollstuhlbenutzer, wird angeklagt selbst nur auf perfekte Koerper zu stehen, weil er unbedingt eine nichtbehinderte Freundin haben moechte, und Hyos als homosexueller Ex-Partner des Selbstmordattentaeters fuehlt sich ohnehin isoliert und an allem schuldig, Acastus (Jim McSharry) dagegen mit seinem meist kindlich- euphorischen Verhalten vermisst seine Mami“ und fuehlt sich von den anderen nicht ernst genommen..
d.a.re. lebt von der grossen Leinwand, welche abwechselnd Filmsequenzen, Internet- und Computeranimationen zeigt und Musik, mittunter sogar Livemusik.
Dabei versucht d.a.r.e. nicht nur in die Zukunft zu blicken, sondern auch in die Vergangenheit. Dabei stellen die vier Behinderten die Frage nach der moralischen Grundlage, auf deren behindertes Leben bewertet wird. Waehrend in Hitlerdeutschland behinderte Menschen getoetet wurden, ist es heute moeglich behinderte Föten (Thatcher in den 80ern, bis zu 9 Monaten) abzutreiben oder in einer nicht allzufernen Zukunft durch die Gentechnik die Entstehung von behinderten Menschen ganz zu verhindern und perfekte Babys zu erschaffen.
“Unsere Behindertenrechtsgruppen sollten ueber das Anketten an Busen hinausgehen, weil bald das Thema des behindertengerechten Transportes akademisch sein wird, denn es wird keine behinderten Menschen geben, die behindertengerechten Transport benoetigen….Wir sollten uns an die Gitter der Downing Street anketten” – Nabil Shaban in Body facism
Warum ich euch dieses Stueck hier vorstelle? Weil es nicht nur gut gemacht ist, sondern es die Mehrheit der Leser nicht die Moeglichkeit haben wird, es live zu sehen.
Ausserdem moechte ich so nebenbei die Gelegenheit nutzen, euch Theatre Workshop in Edinburgh vorzustellen.
Im August 2000 war Theatre Workshop das erste professionelle Theater, welche behinderte KuenstlerInnen in die Hauptproduktionen einbezieht.
Im Sommer 2001 fand das “Degenerate Festival”, Schottlands erstes Internationale Festival der Kunst von Behinderten, statt.
Dabei bestand das “Degenerate Festival” nicht nur aus unzaehligen Stuecken, sondern auch aus einer Ausstellung, bei der die Kuenstlerin Alexa Wright durch Computersimulationen verdeutlichte, wie nach Amputationen die Phantomgliedmassen von den Betroffenen gefuehlt werden, und wie diese dann aussehen wuerden, und wie sie sich verhalten wuerden.
Ein Video des behinderten New Yorkers Bill Shannon alias Crutchmaster wurde gezeigt, der als Untergrundkuenstler in der Hip Hop Szene taetig ist und z.B. mit Kruecken Breakdance tanzt und neue Figuren erfindet, und die neue Moeglichkeiten der Darstellung von Figuren nutzt.
Stuecke von Theatre Workshop sind “I am the Walrus” in dem es ueber Schizophrenie, Kindesmissbrauch, und koerperliche Behinderung eines in der Psychiatrie Inhaftierten geht.
“Fumble in the Dark” spielt in der Herrentoilette in einem Pub in Glasgow und bringt unausgesprochene Vorurteile, die Diskrimination Behinderter im taeglichen Leben, ans Licht ebenso wie Vorurteile gegenueber Homosexualitaet.
Andere Stuecke im Zusammenhang mit dem “Degenerate Festival” waren “Walking amongst sleepers” von Caroline Parker, die ihr Theaterstueck ueber die Reise ans Schwarze Meer mit ihrem Buegelbrett nicht nur spielt sondern nebenbei auch in Zeichensprache gestiert.
In “Uo maana” erzaehlt eine schwarze, behinderte Frau von ihren Erfahrungen der dreifachen Diskrimination, und von ihrer Politisierung, in “Zipper” wird versucht durch Zeichensprache, Tanz und Musik fuer taube Menschen verstaendlich darzustellen- ein sehr schwieriges Unterfangen! In Sealboy:Freak schockt Mat Fraser das Publikum mit einer uralten Show aus laengst vergangenen Zeiten, in denen Behinderte als Jahrmarkt- und Zirkusattraktionen ihren Lebensunterhalt verdienten.
Andere Theaterstuecke ausserhalb des “Degenerate Festivals” waren: “The Bogus Women”, in diesem preisgekroenten Theaterstueck geht es um eine Fluechtlingsfrau, die stellvertretend fuer so viele andere von der fuerchterlichen Situation und ihren Erfahrungen in ihrem Ursprungsland erzaehlt, von ihrer Gefaehrdung als intellektuelle, systemkritische Journalistin, von der Folter, Vergewaltigung und Mord ihrer Familie durch Paramilitaers, von ihrer Flucht, und von ihrer Behandlung als Asylbewerberin in Grossbritannien, und die entwuerdigende Befragung durch die Behoerden, ihrer Armut, der institutionellen Diskriminierung und ihrem Elend als Asylbewerberin bis hin zur Prostitution, ihrer Abschiebung, bis zu ihrer Ermordung in ihrem Ursprungsland.
Eine andere erwaehnenswerte Produktion war “Les Trois Mousquetaires” des “Theatre sans frontiers” ein Theaterstueck hauptsaechlich fuer Kinder produziert, welches dreisprachig, in spanisch, franzoesisch und englisch auch Erwachsene vergnuegt, und dabei so eindruecklich umgesetzt wurde, das die ZuschauerInnen das Gefuehl hatten, dreisprachig MuttersprachlerIn zu sein.
“Wir glauben, dass das Theater das Potential hat, das Leben der Menschen zu veraendern, welche es machen, und der Menschen die es sich ansehen.”
“Wenn wir Theater machen, ist es nicht ein kommerzieller Austausch, aber eine Teilhaben und ein Angebot der sozialen, politischen und kulturellen Einsichten, welche Individuen ermaechtigt sich selber und die Welt um sie herum zu veraendern.”
“Indem wir Integration, Behindertengerechtigkeit und Vorzueglichkeit in allen Bereichen der Darbietung und Bildungsarbeit foerdern, bringt Theatre Workshop unwiderstehliche Geschichten zum Publikum in ganz Schottland und darueber hinaus in den letzten unzensierten Raum- das Theater.”
Robert Rae, kuenstlerischer Direktor, Theatre Workshop
Die naechsten Vorstellungen des Theaters werden waehrend des grossen Kulturfestival “Fringe” in Edinburgh vom 4-26.8.2002 stattfinden.
Comments
Comment by susanne tschee on 2006-10-18 15:18:39 +0100
hello, I found your site looking for a program for next year, when we organise a hearing for people with handicaps in Munich at 5,May 2007. can you give any contact with theatergroups ?
Thank you Susanne